Halloween story

Artikel von Zoé Fischer , 05.11.2023

Der Flughafen
„Zum Flughafen, bitte“, sagt die Frau namens Sybille Krause und zerrt ihren neonpinken Koffer auf die Rückbank des Taxis. Dann setzt sie sich vorsichtig daneben,
um ihren weißen Fellmantel nicht zu beschädigen. Durch den Rückspiegel kann sie
die eisblauen Augen des Fahrers erkennen, die sie beobachten.
Röchelnd startet der Motor und das Taxi fährt die Hauptstraße entlang.
Um die Zeit zu vertreiben, holt Sybille Krause ihr Handy aus der Lederhandtasche
heraus. Ihre dünne Finger wischen elegant auf dem Display herum. Kurz betrachtet
sie ihre fliederfarbenen Nägel, die zu ihrem gleichfarbigen Rock passen. Sie glänzen
makellos im Licht.
Draußen bricht langsam die Nacht herein, doch Sybille bemerkt es nicht.
Erst, als das Taxi anhält, räumt sie das Handy in ihre Handtasche. Draußen ist es still
und dunkel, keine Menschen weit und breit zu sehen. Irritiert runzelt sie die Stirn.
„Ich hatte Flughafen gesagt“, artikuliert sie bewusst langsam.
„Sie sind angekommen“
Der Fahrer drückt auf die automatische Öffnung der Hintertür. Skeptisch pressen sich
Sybilles rote Lippen zusammen, als sich ihre Autotür öffnet und der kalte Oktoberwind sie begrüßt.
Trotzdem steigt sie aus dem Auto und schaut sich um. Vor ihr ragt ein Herrenhaus
empor. Die ursprüngliche Farbe der Fassade ist kaum noch zu erkennen zwischen
dem Dreck und Moos, der sich im laufe der Jahre angehaftet hat. Die dunklen Fenster
sind so schmutzig, dass man nicht mehr hindurchsehen kann.
Wie tote Augen, denkt Sybille und erschaudert.
Hinter dem Haus wachsen hier und da Bäume, deren kahle Äste wie Hexenfinger
nach dem Haus greifen. Das Herrenhaus ist umzingelt von einem Gitterzaun.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch wendet sich Sybille dem Taxifahrer zu.
„Wo bin...“, will sie fragen, als die Tür mit einem lauten Knall zufällt und das Taxi
mit rasendem Tempo die Straße hinunterfährt.
„Hey, warten Sie. Moment...“, schreit Sybille und rennt, so gut es mit ihren Absätzen
auch geht, dem Taxi hinterher.
Doch die Eisentür am Eingang des Grundstückes schließt sich wie von Geisterhand.
Verzweifelt rüttelt sie an den rostigen Stäben. Es hat keinen Zweck. Langsam lässt
sie die Stäbe los. Ihre Hände zittern und sind schweißnass.
Es raschelt hinter ihr. Panisch dreht sich Sybille um und presst ihren Rücken gegen
das Tor. Ihr Herzschlag hämmert in ihren Ohren und hektisch wandern ihre Augen
von der verwilderten Wiese zum Steinweg dazwischen.
Doch da ist nichts.
Langsam versucht sie, ihren Atem zu kontrollieren, wie sie es von ihrem Manager vor
wichtigen Reden beigebracht bekommen hat.
Schnell erfasst sie ihre Lage:
Unbekannter Ort.
Unbekanntes Haus.
Es ist dunkel und kalt.
Erst als sie letzteres denkt, macht sich die Kälte in ihrem zittrigen Körper bemerkbar.
Doch Sybille Krause wäre nicht so erfolgreich in ihrem Leben, wenn sie nicht für
jede Kleinigkeit einen Plan - oder auch mehrere - bereit hätte.
Flink greift sie aus ihrer Tasche das Handy und wählt die Nummer der Polizei.
Kein Empfang.
„Nein, nein, nein, nein!“, stöhnt Sybille und fuchtelt mit ihrem Handy in der Luft herum, doch es nützt nichts.
Ihr verzweifelter Blick bleibt an dem verlassenen Haus hängen. Vielleicht ist dort
besserer Empfang, denkt sie hoffnungsvoll. Oben angekommen will sie die Tür öffnen, doch ihr kommen Zweifel. Was ist, wenn das Haus einsturzgefährdet ist und die
Decke herabstürzt? Oder wenn der gruselige Taxifahrer dahinter steht? Mit einem
Messer in der Hand?!
Wieder einatmen, ausatmen.
Sie konzentriert ihren Blick auf ihre Fingernägel. Kratzer sind auf dem Lack darauf
und brauner Rost verfärbt ihre Hände.
Nach einem letzten Ausatmen holt sie aus ihrer Tasche den Notfallelektroschocker
hervor. Sie hat ihn nie zuvor gebraucht. Aber er gibt ihr ein Gefühl der Sicherheit und
Kontrolle.
Die Tür knarzt laut, als die Frau sie aufschiebt. Sie tritt hinein und der Geruch von
Verwesung schlägt wie eine Welle auf sie ein. Blut und Tod.
Sybille Krause unterdrückt den Würgereiz, der sie überkommt.
„Hallo? Ist da wer?“, fragt sie kaum hörbar, räuspert sich, „Hallo?? Ist da wer?“
Ihre Stimme hallt nun im Gebäude wider. Ein hohes Piepen und Flattern antwortet ihr
und eine aufgeschreckte Fledermaus fliegt davon, in das Innere des Hauses.
Erschreckt von der Bewegung schlägt ihr Puls schneller, doch sie macht einen weiteren mutigen Schritt in das kalte Herz des Gebäudes hinein.
Kurzer Blick auf das Display. Kein Empfang. Langsam geht sie die Treppe hinauf,
die unter ihrem Gewicht knarzt und ächzt.
Plötzlich steht ein Mann am anderen Ende der Treppe. Sie hat ihn nicht kommen hören.
„Ah, Gott sei Dank. Sie müssen mir helfen. Es ist etwas schreckliches passiert... Oh
Gott, ich bin so froh, nicht mehr alleine zu sein. Können Sie mir helfen, wieder zurück in die Stadt zu kommen? Ich glaube, jemand hat das Tor abgeschlossen...“, sprudelt es nur so aus Sybille heraus. Sie geht schneller die Stufen hinauf, zu dem Mann
im schwarzen Anzug.
Doch dieser packt sie mit einem eisernen Griff am Arm.
„Herzzzzzzliccchhh Willkommennn“, zischt er dabei und entblößt somit seine spitzen
Eckzähne.
Erstarrt vor Schreck kann Sybille nur in sein weißes Vampirgesicht sehen. Alle
Alarmsignale sind geweckt.
„Hilfe“, haucht sie, doch kein Wort kommt aus ihrer Kehle.
Der Vampir schaut hungrig auf ihren Hals, wo die Schlagader immer schneller pulsiert. Doch er zieht sie nur weiter, durch eine Tür in einen großen Raum.
„Du sitzt tief in der Patsche, Süße“, hört Sybille eine krächzende Stimme lachen. Als
sie in die Richtung schaut, sieht sie einen Schrumpfkopf von der Decke baumeln und
in der Mitte des Raumes erblickt Sybille eine lange Holztafel, an dessen Ende ein
weiterer Vampir sitzt.
Sybille schwitzt nun ihn Bächen. Die Angst lähmt sie, sodass sie in den Raum stolpert, als der Blutsauger sie hineinzerrt. Irgendwo auf dem Weg hat sie wohl ihren
Elektroschocker verloren; ihre Hände sind leer.
„Sie...“, bringt sie stockend heraus, als sie den Vampir am Tisch wiedererkennt, „Sie
sind der Taxifahrer...“
Dieser beobachtet jede ihrer Regungen wie ein Raubtier seine Beute beobachtet. Und
Sybille realisiert, dass niemand sie retten wird.
„Du kannssst unssss nicht entkommenn“, sagt der Vampir am Tisch und kommt näher.
Doch Sybille hat sich schon von dem Vampir mit Anzug losgerissen und stürzt zur
Tür. Sie rüttelt und zerrt daran, kratzt verzweifelt an dem Holz, bis ihre Finger bluten
und die Nägel abbrechen. Ein Schluchzen kommt aus ihrer Kehle, als der Taxifahrer
an ihren Haaren zieht. Der andere Vampir greift mit seinen kalten Händen nach ihrem
Hals. Intuitiv hebt Sybille ihr Handy vor das Gesicht der Monster und schaltet die Taschenlampe ein.
Für einen kurzen Moment schrecken die Vampire geblendet zurück und Sybille tritt
auf die morsche Tür ein. Doch sie scheint stabiler zu sein, als gedacht. Blind stößt einer der Kreaturen mit voller Kraft gegen Sybilles ausgestreckten Arm, sodass ihr das
Handy aus der Hand gleitet. Die Scheibe zerbricht beim Aufschlag auf den Boden
und das Licht erlischt.
Der Vampir setzt seine Zähne zum Biss an, doch Sybille duckt sich flink. Mit ihrem
ganzen Körper stößt sie sich gegen die Tür.
Ein Knacken, das Holz bricht.
Die Splitter reißen ihre Kleidung und Haut auf, doch sie schafft es durch das kleine
Loch noch ehe der Blutsauger sie zu greifen bekommt. Rast die Treppe hinunter,
Vampire dicht an ihren Fersen.
Fast hat sie die Eingangstür erreicht, doch der Taxifahrer versperrt ihr den Weg. Also
biegt sie nach rechts. Mit Schwung wirft sie ihre teure Handtasche gegen eine Fensterscheibe. Das Glas zerbricht und wackelig steigt sie aus dem Fenster. Stur rennt sie
geradeaus, durch das hohe Gras. Ihre Absätze versinken in der matschigen Erde.
Schließlich erreicht sie außer Puste und schweißnass das Gittertor. Irgendwo muss sie
ihren Mantel verloren haben. Der Wind weht durch ihre dünne Bluse.
Hecktisch schaut sie hinter sich und sieht die blutdürstigen Monster aus dem Haus
kommen. Sybille rennt am verschlossenen Tor vorbei, immer tiefer in das Grundstück
hinein, bis sie hinter Büschen versteckt eine Gittertür entdeckt. Sie ist nur leicht angelehnt. Erleichterung packt Sybille, als sie auf der Straße angekommt. Obwohl sie den
Vampiren entkommen ist, rennt sie weiter die Straße entlang, immer weiter weg vom
alten Herrenhaus. Schließlich kommt sie erschöpft an eine Bushaltestelle und setzt
sich auf die Bank.
Nach einer Weile wird sie von Scheinwerfern geblendet und ein roter Bus erscheint.
Als er keuchend vor ihr stehenbleibt, fällt Sybille vor Erleichterung ein Stein vom
Herzen. Hastig steigt sie ins Warme.
"Ein Ticket zum Flughafen, bitte", sagt sie und blickt in das leichenhafte Gesicht des
Fahrers. Es ist ein Zombie.